"Der deutsch-türkische Austausch war nie nur eine Einbahnstraße"

Schwerpunktthema: Rede

Istanbul/Türkei, , 22. April 2024

Bundespräsident Steinmeier hat am 22. April bei einem Kulturabend in der Kulturakademie Tarabya in der historischen Sommerresidenz des deutschen Botschafters eine Rede gehalten.

Bundespräsident Steinmeier hält eine Ansprache beim Kulturabend in der Kulturakademie Tarabya

Ich habe mir sagen lassen, Türken liebten das Wort "circa". Dann mache ich mich gleich einmal beliebt und kündige an, dass ich circa fünf Minuten zu Ihnen sprechen werde.

Als ich das erste Mal vor Jahren hier war, blieb mir fast die Luft weg. Dieser Traumort ist nicht nur wegen seiner atemberaubenden Lage direkt am Bosporus einzigartig. Tarabya wirkt in dieser immer vibrierenden Stadt fast schon wie ein Kurort. Dieser Park hier zeigt auch, wie lang die engen Beziehungen zwischen Türken und Deutschen zurückreichen. Im Jahr 1880 schenkte ihn Sultan Abdülhamid II. dem deutschen Kaiserreich in der Erwartung noch weiter wachsender Freundschaft. In einer solch imposanten Umgebung konnten die deutsch-türkischen Beziehungen ja nur wachsen und gedeihen! Und das war sicher auch die Idee hinter diesem Geschenk.

Die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern reichen nicht nur lange zurück, sie sind auch überaus vielfältig. Seit 100 Jahren sind wir eng miteinander verbunden. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei, in einer gemeinsamen Zollunion. Und auch im Bereich der Außenpolitik arbeiten wir eng zusammen: in der NATO und ganz aktuell auch im Angesicht einer dramatischen und brandgefährlichen Krisenlage in unseren Nachbarschaften.

Aber wir haben nicht nur gemeinsame wirtschaftliche und politische Interessen. Die deutsch-türkischen Beziehungen leben von den menschlichen Banden, die über Jahrhunderte geknüpft wurden. Von Bosporus-Deutschen und Almancis, von Künstlerinnen und Wissenschaftlern, die in einem engen Austausch stehen, wie wir auch hier heute Abend in der Gästeschar sehen. Die Kulturakademie Tarabya mit ihren vielen Programmen und Stipendien spielt eine ganz wichtige Rolle, wenn es darum geht, kulturelle und zivilgesellschaftliche Räume zu erhalten. Aber auch Stiftungen, NGO’s und das Goethe Institut sind verlässliche Partner und wichtige Plattformen der Begegnung. Dafür danke ich allen Beteiligten: Denen, die heute hier sind, und bitte geben Sie es auch an die weiter, die für diese engen kulturellen Beziehungen arbeiten, aber nicht hier sein können.

Der deutsch-türkische Austausch war nie nur eine Einbahnstraße. Deutsche Architekten von Weltruf wie Bruno Taut oder auch der einstige Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter fanden ab 1933 hier in der Türkei Zuflucht und halfen auch dabei, die junge Republik aufzubauen. Vieles aus dieser Zeit, der deutsch-türkischen Beziehungen ist heute noch sichtbar: in Ankaras Straßen, auf seinen Plätzen, manches in der Architektur. Man kann also durchaus sagen, dass wir Deutsche die Türkei ein bisschen mitgeprägt haben.

Aber mehr noch prägen die knapp drei Millionen türkeistämmigen Menschen inzwischen mein Land. Viele von ihnen sind Deutsche geworden, sie sind Teil unseres gemeinsamen Wir. Lange Zeit waren sie für viele nur die "Gastarbeite", sie blieben Ausländer, die auf Zeit kamen. Und selbst in zweiter oder dritter Generation, selbst wenn sie in Deutschland geboren und aufgewachsen waren, sahen viele in den türkeistämmigen Menschen nur das Anderssein, ohne anzuerkennen, dass sie längst zu uns gehören. Sie sind nicht Menschen mit Migrationshintergrund, sondern inzwischen ist unser Land ein Land mit Migrationshintergrund geworden! Auch deshalb war es mir wichtig, vor dem 75. Grundgesetzjubiläum, vor der Geburtstagsfeier unserer Republik in einem Monat, in die Türkei zu reisen und zu sagen: Ihre Geschichten, die Geschichten von mittlerweile vier Generationen türkeistämmiger Menschen in unserem Land, sind Teil der deutschen Geschichte! Heute Nachmittag war ich gleich zum Beginn der Reise am Bahnhof Sirkeci, an dem Hunderttausende dieser Geschichten ihren Anfang nahmen.

Woher kommen Sie? Dieser Frage müssen sich türkeistämmige Menschen nicht nur in Deutschland stellen. Hier in der Türkei nennt man sie inzwischen Almancis, Deutschländer. Woher komme ich und wo gehöre ich hin? Mit diesen Fragen beschäftigt sich inzwischen eine ganze Generation von türkeistämmigen Schriftstellerinnen und Autoren in Deutschland. Zu ihnen gehören Dinçer Güçyeter, der uns auf dieser Reise begleitet, von dem wir gleich noch etwas hören werden; Dilek Güngör, Necati Öziri, Fatih Çevikkollu, Deniz Utlu – ich kann sie hier natürlich nicht alle nennen. Sie alle sind in Deutschland geboren, als Kinder von sogenannten Gastarbeitern, und erzählen in ihren Romanen von der Suche nach einer eigenen Identität, von Zugehörigkeit und Herkunft. Und indem sie die Geschichten ihrer Familie aufschreiben und von den generationsübergreifenden Wunden berichten – mal wütend, mal traurig, oft fragend –, erzählen sie eben auch etwas über die Geschichte der Bundesrepublik und damit über uns alle.

Diese deutschtürkischen Autoren haben das Schweigen ihrer Eltern durchbrochen. Ihre Bücher sind Bestseller. Sie prägen die Debatte in Deutschland und über Deutschland. Es ist eine neue Generation türkeistämmiger Deutscher, die hier den Ton setzt, mit einem neuen Selbstbewusstsein. Es sind Stimmen, die dazu beitragen werden, dass dieses Land sich seiner selbst bewusst wird.

Ich habe einmal gesagt: Heimat gibt es auch im Plural. Wie selbstverständlich es dazu gehört, sich nicht für eine Heimat entscheiden zu müssen, zeigt eine Leidenschaft, die Deutsche und Türken verbindet: der Fußball. Beide Kapitäne der deutschen und der türkischen Nationalelf sind in Deutschland als Kinder türkischer Eltern geboren und aufgewachsen: Ilkay Gündoğan kommt aus Gelsenkirchen, Hakan Çalhanoğlu aus Mannheim. Und wer weiß, vielleicht treffen ihre Teams ja bei der Europameisterschaft in diesem Sommer aufeinander.

Und es gibt da noch eine Sache, die Deutsche und Türken lieben: das Grillen. Darum freue ich mich, Sie nun alle ans Buffet zu bitten, das der wunderbare Istanbuler Koch Cem Eksi, der seine Kunst in Deutschland erlernt hat, für uns vorbereitet hat. Besonders freue ich mich auch darüber, dass mich Arif Keles auf meiner Reise begleitet, der in dritter Generation einen beliebten Dönerladen an der Berliner Yorckstraße betreibt. Der – so habe ich mir sagen lassen – auch der Lieblingsladen unserer eben schon erwähnten Fußballnationalelf ist. Der Döner Kebab, in seiner heutigen Form entwickelt von türkischen Gastarbeitern in Berlin, ist mittlerweile ein deutsches Nationalgericht geworden. Kein Schnellgericht geht in Deutschland häufiger über die Theke, wird öfter verspeist, sogar häufiger exportiert als der Döner Kebab, der es in seiner abgewandelten – man muss sagen "typisch deutschen" Form – als "Kotti Berliner Döner Kebab" bis nach New York City geschafft hat. Ein Stück türkisch-deutsche Alltagskultur, die aus unserem Land, aus unserer Küche nicht mehr wegzudenken ist. Ich freue ich mich, gleich gemeinsam mit Arif Keles einen Döner Kebab vorzubereiten. Wir erwarten Sie also am Grill in "circa" fünf Minuten.